31 Rezepte zur Revitalisierung der Thurgauerstrasse
Nach den Sommerferien 2020 pedalten gehäuft junge Leute mit Notizbüchern und Fotoapparaten auf und rund um die Thurgauerstrasse. Sie gaben sich zu erkennen als Architektur-Studierende bei der „Feldarbeit“ im Rahmen ihrer Master-Arbeiten zum Thema „Thurgauerstrasse“. Gleichzeitig lief die Kampagne zur Abstimmung über den Gestaltungsplan Thurgauerstrasse. Dies ergab zahlreiche spannende Gespräche und Wechselwirkungen der Argumente zum Beispiel in den Arbeiten von Anna Clocchiatti oder Mino Sommer.
Die kritischen Betrachtungen der Masterarbeiten erweitern den Blick von engagierten Bewohnenden der Nachbarschaft und bereichern deren Alltagsbefunde durch unvoreingenommene Aussensichten.
Die Ausgangslage
Die Thurgauerstasse wurde ab den 1950er als „Büromeile“ auf der Verbindungsachse zwischen dem Stadtzentrum Zürichs und dem Flughafen konzipiert. Sie führt vom Hallenstation (Zürich) bis zum Lindbergplatz (Opfikon) je zwei Spuren stadtein- wie stadtauswärts und in der Mitte das Trasse der Glatttalbahn. Wichtige Standortvorteile waren damals die günstigen Mietpreise an peripherer Lage, ein repräsentatives Gebäude für den Firmen-Hauptsitz zur Stärkung der Corporate Identity sowie die Erschliessung mit dem Auto. All dies führt zu monofunktionalen Inseln, welche säuberlich durch Tiefgaragenein-fahrten voneinander getrennt sind. Mit der Digitalisierung der Wirtschaft werden diese Standortvorteile bedeutungslos. An ihre Stelle treten Kriterien wie „Arbeiten und Wohnen unter einem Dach“ und die „Stadt der kurzen Wege“. Klassisch organisierte Büroräumlichkeiten haben im vorhandenen Umfang keine Zukunft.
Im Sommer 2020 stehen an der Thurgauerstrasse 25% der Büroräumlichkeiten, 11% der Verkaufsflächen und über 50% der Parkplätze leer (Karte).
Der Befund
Angesichts dieses Wandels sind die Diagnosen der Masterarbeiten über die vorgefundene Situation wenig überraschend:
- „Fehlende gemeinsame Identität trägt massgeblich zur Unattraktivität und zum Niedergang des Textil- und Modecenters bei – symptomatisch für die Thurgauerstrasse“;
- Die Gebäude entlang der Thurgauerstrasse erinnern an übergrosse, leere Kreuzfahrtschiffe in einem Hafen, die geduldig auf ihren Abbruch warten;
- Gebaute Inseln im Niemandsland mit programmatischer Monofunktionalität;
- Die Fassaden aus poliertem Stein, Glas und Stahl sowie protzige Eingangs-bereiche sprechen eine Sprache, die abweisend ist und die niemand versteht.
Die Lösungsvorschläge
Die Architektur-Studierenden legen 31 Lösungsvorschläge vor, die letztlich alle auf eine Revitalisierung des Gebiets entlang der Thurgauerstrasse auf der ganzen Länge hinauslaufen. Die Vorschläge reichen von ganzheitlichen Überlegungen bis zur Umnutzung einzelner Gebäude.
Die Ganzheitlichen
Juan Barcia Mas bezeichnet die Gebäude entlang der der Thurgauerstrasse als „Paläste des Kapitals“ und kritisiert unter anderem die unternutzten, protzigen, halböffentlichen Eingangsbereiche: „In the same way that Georges Bataille identifies cathedrals and palaces as signifiers of a divine order imposed by a ruling elite to the silent masses, the palatial edifices along Thurgauerstrasse signify the rule of profit, as well as its momentary decay.“ Yeshi Wang zeigt auf, wie die abweisenden, postmodernen Fassaden zu Material rezykliert werden können mit dem die Gebäude wohnlicher gestaltet werden können. Christoph Strässle entwirft gleich eine Abstimmungskampagne für die „Leerstands-Initiative“ und liefert in einem Video wertvolle Hintergrundinformationen über die verschiedensten Grossbauvorhaben im Bereich der Thurgauerstrasse der letzten über 100 Jahre.
Etliche Arbeiten sind geprägt von der Diskussion um den Gestaltungsplan Thurgauerstrasse und beziehen die bestehende Siedlung Grubenacker in die Betrachtung ein. Am umfassendsten macht dies Anna Clocchiatti. Sie geht von einer Analyse der „verborgenen Potentiale“ im Bereich der Thurgauerstrasse aus und entwickelt so eine Perspektive, wie das ganze Gebiet unter Einschluss der Bürogebäude auf der Ostseite der Thurgauerstrasse dereinst aussehen könnte. Mino Sommer reorganisiert die bestehenden Bürogebäude entlang der Thurgauerstrasse und verdichtet sie zu einer geschlossenen, multifunktionalen, Wohnen und Arbeiten umfassenden Stadtlandschaft. Das Gestaltungsplan-gebiet stattdessen lässt er weitgehend unbebaut und macht daraus einen grossen Garten- und Parkbereich. Sein Motto lautet: Was grün ist soll grün bleiben, was bebaut ist, soll reorganisiert und optimiert werden.
Einzelne Arbeiten widmen sich ausgewählten Themen wie dem Verkehr (Fabienne Ulrich macht einen Vorschlag zur Entflechtung von Fussgängerwegen vom restlichen Verkehr) oder dem Mikroklima (Gionata Buzzi zeigt auf, wie eine bioklimatische Aufwertung aussehen könnte).
Die Umnutzenden
Die Verwandlung und die Belebung der leer stehenden Lobbies der Bürogebäude z.B. als Cafés steht im Zentrum der Arbeiten von Johanna Roth und Karina Breeuwer (unter dem Titel „the value of waste“), welche u.a. auch das LEONARDO in ein Zentrum für die Wiederverwendung von Abfällen verwandelt.
Andere nutzen die grossen Bürogebäude ganz unerwartet um: Marc Lehmann macht aus dem IMPERIAL genossenschaftliche Gemeinschaftsgärten, Solange Piccard aus dem TMC ein Textilrezycling-Center und Kerstin Spiekermann nutzt das leerstehende Trend House zu einem Markt für lokale Produkte um.
Etliche Arbeiten begnügen sich damit, einzelne Häuser mit Wohnungen aufzustocken: Patrick Vidalis das Oerlikerhus oder Djoa Strassburg und Robert Schrammen das Airgate. Nandor Zahnd stockt die Thurgauerstrasse 60 mit einer Sportanlage auf, ähnlich wie die Turnhalle im Schulhaus Leutschenbach.
Das Fazit
Die Arbeiten beleuchten einen Aspekt, der in der bisherigen Diskussion um den Gestaltungsplan Thurgauerstrasse nicht mit dem nötigen Stellenwert hatte: Die Unternutzung der bestehenden Gebäude an der Thurgauerstrasse. Oder um aus der Arbeit von Anna Clocchiatti zu zitieren: “Well, one provocation that you could make is, if all of this is empty, why don’t we turn this into housing first, before you start building the other one?” (Freek Persyn, Architect and Professor for Architecture & Urban Transformation). Verschiedene Arbeiten zeigen auf, dass die für den flexiblen Büroausbau mit „Zirkulationskernen“ konzipierten Gebäude mit vertretbarem Aufwand umgenutzt werden können.
Damit würde automatisch der ganze Bereich der Thurgauerstrasse im eigentlichen Sinn „revitalisiert“ und die jetzigen monofunktionalen Inseln zu einem sinnvollen und zweckmässigen, kleinteiligen Ganzen vernetzt. Dies ist eine Voraussetzung und auch eine Chance dafür, dass die neue Wohnsiedlung einen wohl definierten Beitrag zu dieser Revitalisierung leistet. Sonst entsteht eine (weitere) monofunktionale Insel im mittlerweile entleerten Büromeer. Sie heisst dann zwar nicht „IMPERIAL“, „AMBASSADOR“ oder „LEONARDO“ sondern „Wohnungen für 2000 Menschen“. Aber sonst ist es „more of the same“.
Bei den weiteren Planungsarbeiten ist sorgsam darauf zu achten.
Alle Arbeiten sind zu finden unter: https://works.arch.ethz.ch/mastersthesis
Nachtrag: NZZ am Sonntag zum Büroleerstand in Manhattan: link.